vendredi 10 avril 2009

Guten Tag



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2. Teil, 2. Kapitel:
Ich ging am Kanal entlang zurück. Das Wasser war immer noch gefroren. Die Kälte hatte ihren Tiefpunkt erreicht. Sie lähmte das alltägliche Leben. Die grosse Überzahl der Menschen hatte sich in ihre Behausungen zurückgezogen. In der Stadt herrschte fast vollkommene Stille. Die einzigen vernehmbaren Geräusche waren das Motorenraunen einiger Autos, die Schreie eines Möwenschwarms, der in grosser Höhe über der Stadt kreiste, das Bellen eines Hundes, der nervös auf der Kanalmauer auf und ablief. Die Luft war so kalt, dass sie auf der Haut und in den Lungen schmerzte. Schon nach wenigen Minuten im Freien, begann mich ein unerträglicher Husten zu quälen. In der eisigen Luft war ein unsichtbares, doch fühlbares Unheil, das mit Verlusten drohte. Mit Verlusten unter den Menschen, den Bäumen, den Tieren. Die Gebäude entlang des Kanals glichen nunmehr ausgetrockneten, von leeren Augenhöhlen durchlöcherten Ruinen. Die Bäume ähnelten ihnen. Sie sahen geschwächt aus, porös, als wirkte ein Gift in ihnen, das an ihrem Leben nagte und es allmählich verzehrte. Der Boden war von Eis bedeckt. Man musste achtgeben, nicht auszurutschen. Entlang der Strassen und an den Kreuzungen waren Schilder angebracht, die über die einzuhaltenden Sicherheitsvorkehrungen informierten und an die zwischenmenschliche Solidarität appellierten. Die wichtigste Sicherheitsvorkehrung bestand darin, von den Gebäuden und den Bäumen Abstand zu halten: Eisstürze hatten bereits über zwanzig Opfer gefordert. Die Bevölkerung wurde wegen der erschwerten Nachlieferungsbedingungen zum sparsamen Brennstoffverbrauch aufgefordert. Nach ungefähr einer halben Stunde gelangte ich an einen Notinterventionsstand, an dem kostenlos heisse Getränke, Schals, Handschuhe und Ohrenschützer verteilt wurden. Ich nahm einen Becher Tee und ein Paar Handschuhe. Man musste schnell trinken. Bereits nach wenigen Schritten war die Flüssigkeit abgekühlt und tauchten die ersten Eispartikel im Becher auf.
Was in der Stadt vor sich ging, war beunruhigend. Zugleich herrschte eine Stimmung des noch nie dagewesenen, eine Atmosphäre der vielleicht letzten Stunden, die die Aufmerksamkeit fesseln, von anderen Sorgen ablenken konnte.
Als ich zu Hause ankam, stellte ich die Heizungen an und warf einige Holzscheite in den Ofen der Restaurantküche. Ich entfachte ein Feuer, liess die Tür zwischen der Küche und dem Restaurant weit offen stehen. Dann stieg ich die Treppen zur Wohnung hinauf. Ich ging zum Zimmer meiner Mutter und klopfte an. Es kam keine Antwort. Ich öffnete die Tür und sah vor mir einen leeren Raum, einen unaussprechlich leeren, unbewohnten Raum. Die Wände umschlossen ein verlassenes Bett. Seine Decke war halb zurückgeschlagen - als ob jemand soeben aufgestanden sei und gleich zurückkäme. Fenster und Läden waren geschlossen. Ich fasste nach der Decke und breitete sie gleichmäbig auf dem Bett aus. Wie trostlos, wie entmutigend eine Geste sein kann, die man zum letzten Mal ausführt. Ich musste fort. Fühlte eine unerträgliche Unruhe in mir, musste mich bewegen, jemandem begegnen, konnte nicht allein sein. Ich ging zu ihr. Der Abend nahte. Die Monumente der Stadt bildeten eine schweigende, graue Silhouette. Als ich mich dem Ende der Insel näherte, sah ich, dass selbst der Fluss, der immense Fluss, vollständig gefroren war. Er bildete eine weite, bleiche Ebene, die von kleinen Menschengruppen besiedelt war. Das Eis war so dick, dass es dem Aufschlag von Uferbäumen widerstand, die umgestürzt, in Stücke zerborsten auf der bleichen Ebene lagen. In ihren Fenstern war kein Licht. Ich ging dennoch die Stufen zur Wohnung hinauf und läutete an der Tür. Während der langen Zeit, die ich umsonst wartete, war mir, als hätte ich nichts zu verlieren und nichts zu fürchten, als das Schicksal jener Bäume am Ufer zu teilen.
Ich kam an Leuten vorüber, die zum Fischen Löcher in das Eis gebohrt hatten. Sie zogen Zander und Barsche aus ihnen heraus. Als ich den Hauptboulevard erreicht hatte, sah ich am Strassenrand eine schüttere, gebückte Gestalt, die wiederholt zum Gang ansetzte, doch zurückwich, als sie der Fahrzeuge gewahr wurde, die aus der Ferne nahten. Ich ging zu der gebückten Gestalt. Schob eine Hand unter ihren Arm und wir überquerten die Strabe gemeinsam.
„Vielen Dank für Ihre Hilfe, sagte der Alte. Möge Gott Sie beschützen“, bevor er allein weiterging. In diesem kurzen, gemeinsam verbrachten Moment war etwas Beruhigendes, etwas Beschützendes - auch für mich. Mehr für mich sogar als für den Alten. Es war ein Moment zwischenmenschlicher Nähe, wonach ich mich mehr als nach allem anderen sehnte.
Ich bog in Richtung der Kathedrale ab. Sie war so sehr verändert, dass man sie kaum noch erkennen konnte. Sie glich einem alten Mammut, der einem Sumpf entstieg. Unzählige Eisgebilde hingen von ihrem Dach, den Stützstreben, den Wasserspeiern, schlossen ihren Körper unter sich ein. Feuerwehrfahrzeuge hatten um das Gebäude herum Position bezogen; sie fuhren elektrische Leitern aus, auf denen Arbeiter die Eisgebilde mit Hilfe von Kettensägen und Hämmern entfernten.
Ich lief nach Hause zurück. Von der Küche her schien ein schwaches, rotes Licht in das Restaurant hinein. Das Feuer war fast ausgebrannt. Es würde bald erlöschen.